Für Pater Martin Stork, Prior der Abtei Himmerod, in Dankbarkeit und Zuneigung.


»Die Wahrheit hat keinen größeren Feind als das Vorurteil.«

Cautio Criminalis Friedrich Spee

ERSTES BUCH
DIE ABTEI

Erstes Kapitel

Изображение к книге Das Geheimnis der weißen Mönche

Zitternd vor Kälte und Erschöpfung, stand Jakob in der stürmischen Februarnacht und rang nach Atem, während der Himmel in wildem Zorn Blitze wie Speere aus gleißendem Licht nach ihm schleuderte. Ein böiger Wind schlug ihm den Regen, der halb Schnee und halb Hagel war, wie eine Peitsche aus messerscharfen Eisschnüren schmerzhaft ins Gesicht.

Sie würden beide elendig in dieser eisigen Sturmnacht zu Grunde gehen, wenn das Kloster nicht bald auftauchte! Jakob war am Ende seiner Kraft und konnte den einachsigen Eselskarren mit der Last des alten Mönches nicht länger ziehen! Er hatte in den Händen, die wie festgefroren um die Deichsel des Karrens und den ledernen Zuggurt lagen, kaum noch Gefühl.

Wieder erhellte ein Blitz für kurze Momente die Finsternis der Nacht, die ihm wie der schwarze, gierige Schlund des Verderbens vorkam. Jakob konnte erkennen, dass der schlammige Pfad vor ihm auf die Kuppe eines sanft ansteigenden Hügels führte. Ein mächtiger Eichenbaum mit ausladender Krone erhob sich auf der kleinen Anhöhe, die wie der Rest des Eifellandes unter einer knöcheltiefen Decke alten, harschen Schnees lag. Dahinter zeichnete sich ein Waldstück ab, schwarz wie ein Henkerstuch und abweisend wie eine Wand aus Festungspalisaden.

An jedem anderen Tag wäre es für Jakob ein Leichtes gewesen den Eselskarren mit dem eingefallenen, alten Mönch den Hügel hochzuziehen. In dieser Nachtstunde jedoch bewirkte der Anblick der Steigung, dass ihn ein Gefühl der Verzweiflung und des zornigen Aufbegehrens gegen ein allzu ungnädiges Schicksal überkam.

»Ich kann nicht mehr!«, schrie er in die Nacht hinaus, als dem Blitz nun ein scharfer Donner folgte, der wie das Krachen von Kanonen über das bergige Eifelland rollte. Er hatte Tränen der Erschöpfung in den Augen. »Ich will nicht mehr! Ich habe mich genug geplagt!« Und in Gedanken stieß er eine lästerliche Verwünschung aus. Verflucht sei der Morgen vor drei Tagen am Laacher See, als er sich hatte beschwatzen lassen dem alten Kuttenträger seine Dienste zu verkaufen!

Jakob wandte sich um und warf einen gehetzten Blick auf das gekrümmte Bündel, das unter zwei räudigen Pferdedecken auf den Brettern seines Wagens lag. Deichsel und Zuggurt entglitten seinen kraftlosen Händen und fielen in den Schlamm des aufgeweichten Weges.

Mit tauben Fingern zog er die nassen Decken über dem Kopf des alten Mannes zurück. Er konnte dessen ausgezehrtes Gesicht in der Öffnung der Kapuze nicht sehen, doch er spürte, dass die Augen des Klosterbruders ihn anblickten, und er hörte ihn etwas murmeln.

Jakob beugte sich zu ihm hinunter. »Ich kann nicht weiter. Es tut mir Leid, ich bin am Ende meiner Kräfte, Bruder Anselm«, sagte er keuchend und dachte an den versprochenen Lohn. Der Mönch hatte einen kleinen Beutel um den Hals hängen, in dem Jakob vor drei Tagen den verlockenden Klang von Münzen vernommen hatte.

»... heilige Jungfrau... an dem Busen der Gottesmutter...« Bruder Anselm stieß die Worte abgehackt hervor und war offensichtlich nicht mehr fähig einen ganzen Satz zu formulieren.». auch die grässlichste Schuld. barmherzige Aufnahme. Hort der Gnade und Sicherheit. mich ihr anvertrauen. Ihr Angesicht. dein Erbarmen. deine Huld.« Er versuchte sich aufzurichten, fiel jedoch mit einem schwachen Stöhnen sofort wieder auf die harten Bretter zurück.

»Schon gut, schon gut, der Herr wird sich Eurer gewiss erbarmen«, antwortete Jakob und berührte die Stirn des alten Mönches. Er zuckte zurück, als hätte er eine feuerrote Herdplatte berührt. Der Mann glühte vor Fieber!

Dem Mönch war nicht mehr zu helfen! Er war schon so gut wie tot. Es machte also keinen Sinn mehr, sich weiter mit ihm abzuplagen. Bruder Anselm würde ihn bloß noch mit sich ins Grab ziehen, wenn er sich seiner Last nicht endlich entledigte. Der kranke Mönch war für ihn zu einem lebensbedrohlichen Ballast geworden, denn wer weiß, wie weit es noch bis zu dieser Abtei Himmerod war. Wenn er sich verirrt hatte, konnte das Kloster im Salmtal noch viele Meilen entfernt sein.

Ich werde ihn dort oben unter der Eiche zurücklassen, beschloss Jakob. Bis dahin bringe ich ihn noch. Dann möge ihm der Herr gnädig sein!

Er zog den Ledergurt aus dem Schlamm, legte ihn sich wieder über die linke Schulter, packte mit der Rechten die Deichsel und setzte sich mühsam in Bewegung.

Das Gewitter tobte mit unverminderter Gewalt. Immer wieder rissen grelle Blitze die Nacht auf und tauchten das Land in ihren gespenstisch hellen Schein. Das Krachen des Donners, der nun fast gleichzeitig mit jedem Blitz erfolgte, war so ohrenbetäubend, als wollte das Himmelsgewölbe in tausend Stücke zerbersten und auf ihn niederstürzen.

Jakob quälte sich den Hügel hinauf. Bei jedem Schritt verfluchte er den maulfaulen Fuhrmann, der ihm am Nachmittag beim Hunnenkopf den Weg gewiesen hatte. Er hatte so geklungen, als läge das Kloster dieser Zisterziensermönche gleich hinter der nächsten Hügelkette. Die Landstraße war trocken und der Himmel sonnig gewesen und so hatte er die letzte, scheinbar kurze Wegstrecke guten Mutes in Angriff genommen. Und dann, noch vor Einbruch der Dunkelheit, hatte sich das Unwetter zusammengebraut und war über ihn hergefallen, kaum dass er den Manderscheider Wald hinter sich gebracht hatte. Die Pest und Krätze über den Fuhrmann, der ihn über die wahre Entfernung zur Abtei so getäuscht hatte!

Wenn er den falschen Weg eingeschlagen hatte, konnte er noch die ganze Nacht herumirren, ohne auf das Kloster oder sonst eine Behausung zu stoßen, wo man ihm ein Dach über dem Kopf und ein trockenes Lager gewähren konnte. Dann blieb ihm nichts anderes übrig als irgendwo im Wald Schutz zu suchen und unter seinen Karren zu kriechen.

Voller Bitterkeit dachte er daran, dass er gestern noch einen Esel besessen hatte. Das Tier war zwar mager, äußerst übellaunig und bissig gewesen, aber es hatte doch den Karren mit ihm und dem Mönch gezogen. Aber dann, beim Abstieg ins Tal von Manderscheid, hatte das störrische Biest auf dem verschneiten Berghang den Tritt verloren, war gestürzt und hatte sie mit sich gerissen. Dass der Mönch und er den Sturz überlebt hatten, ohne sich auch nur einen Knochen gebrochen zu haben, war ein kleines Wunder gewesen. Der Esel hatte weniger Glück gehabt. Er hatte sich das Genick gebrochen. Und so hatte dann er, Jakob Tillmann, der vom Pech verfolgte Bastard einer Bauernmagd und eines durchziehenden Landsknechtes, sich den Zuggurt über die Schulter legen müssen.

Jakob blieb stehen, als er sah, dass der Weg nicht direkt zu der Eiche auf dem Hügel führte, sondern ein gutes Stück unterhalb davon nach links abbog und Richtung Wald lief. Im Licht eines Blitzes entdeckte er rechts vom Weg eine Mulde, die von einem Dickicht halb überwachsen war. Er zögerte kurz und zuckte dann die Achseln.

»Dies ist ein ebenso guter Platz zum Sterben wie die Eiche. Besser liegt er da oben auch nicht«, murmelte er grimmig vor sich hin. Was nützte es denn dem alten Mönch, wenn er ihn noch bis unter den Baum schleppte, sich dabei völlig verausgabte und dadurch selbst dem Tod zum Opfer fiel? Gott oder Teufel, wer auch immer mehr Anspruch auf seine Seele hatte, er sollte die des alten Mönches nun endlich haben!

Sein Gewissen, das sich dennoch zu regen begann, beruhigte Jakob damit, dass er wahrhaftig alles getan hatte, was in seiner Macht stand, um den alten Mann nach Himmerod zu bringen. Er hatte seinen Esel dabei verloren und sich selbst nicht geschont. Mehr konnte keiner von ihm verlangen. Was die großzügige Belohnung anging, die ihm Bruder Anselm versprochen hatte, so musste er sich diese wohl selbst nehmen. Der fiebernde Mönch hatte gewiss nicht mehr die Kraft dazu, ihm seinen Lohn zu geben.

Jakob fragte sich, wie viel Geld wohl in dem kleinen Lederbeutel sein mochte. Wenn er es recht überlegte, hatte er eigentlich Anspruch darauf, auch für seinen Esel entschädigt zu werden.

Ich werde mir an Münzen nehmen, was er im Brustbeutel mit sich trägt! Wenn es nur ein paar lausige Heller sind, will ich mich damit zufrieden geben. Wenn es jedoch ein hübscher Batzen Geld ist, soll er mir als Belohnung ebenso recht sein, beschloss er und vergaß vor Aufregung einen Augenblick sogar die Kälte, die ihn quälte, und das Wüten des Unwetters. Gerechter kann ich es gar nicht machen als mein Glück ganz dem Zufall zu überlassen!

Jakob hatte seine Hand um den Lederbeutel gelegt, fühlte unter seinen Fingern den harten Widerstand von mindestens einem halben Dutzend Münzen und versuchte ihren Wert schon anhand ihres Gewichtes zu schätzen, als erneut ein Blitz aus dem Himmel zuckte.

Dieser gleißende Blitz übertraf mit seiner blendenden Helligkeit alle anderen um ein Mehrfaches, zumindest kam es Jakob so vor. Begleitet von einem unbeschreiblich lauten Donnern und Bersten, das Jakob durch Mark und Bein ging, fuhr der Blitz in die Eiche -und spaltete den Baum wie ein Henker mit seinem Richtschwert.

Jakob schrie zu Tode erschrocken auf, ließ den Lederbeutel mit den Münzen los und stürzte rücklings in den Schlamm. Mit entsetztem Blick starrte er zur Eiche hinüber, deren mächtigen Stamm der Blitz wie ein Bündel Stroh auseinander gerissen hatte. Ein Schauer, der diesmal von innen kam, durchfuhr ihn und ließ ihn erzittern. Hätte er den Mönch unter die Eiche geschleppt und dort von seinem Karren gezogen, hätte der Blitz sie beide erschlagen!

Waren der Blitz und die gespaltene Eiche direkt vor seinen Augen ein Zeichen? Eine letzte Warnung? Und wenn ja, galt sie dann nur dem irdischen Besitz des todkranken Mönches, den er gerade an sich hatte nehmen wollen? Oder wollte ihm dieses zeichenhafte Geschehen etwas anderes sagen?

Am ganzen Leib wie Espenlaub zitternd und von beklemmenden Ängsten bedrängt, rappelte er sich auf, zog die Decken hastig wieder über den Fieberkranken und beeilte sich von diesem schauerlichen Ort fortzukommen. Die Furcht vor den dunklen Mächten, denen er weder einen Namen geben konnte noch wollte, weil sie ihm auch namenlos schon Angst genug machten, weckte Kräfte in ihm, die er nie in sich vermutet hätte.

Fast im Laufschritt hielt er mit seinem Karren auf den Wald zu. Vergessen war der Entschluss sich des Mönches zu entledigen. Er würde ihn in dieses vermaledeite Kloster Himmerod bringen, tot oder lebendig!

Zweites Kapitel

Wie viele Stunden waren seit dem Blitzschlag in die Eiche vergangen? War es schon Mitternacht oder erst um die zehnte Abendstunde? Jakob wusste es nicht zu sagen. Es wurde ihm auch mit jedem Schritt gleichgültiger. Er würde dem Weg folgen, bis er umfiel.

Wenigstens hatte sich das fürchterliche Unwetter verzogen. Zwar flammte am nächtlichen Horizont noch immer der Lichtschein gelegentlicher Blitze auf, allerdings flößte ihm dies keine Angst mehr ein. Wenn doch auch der eisige Schneeregen mit dem Gewitter fortgezogen wäre!

Jakob kam aus einem schmalen Waldstück und blieb einen Moment auf freiem Feld stehen, um Atem zu holen und sich über das Gesicht zu wischen. Als er den Blick hob, stellte er fest, dass er sich auf einer Anhöhe befand. Vor ihm erstreckte sich offenes Weide-und Ackerland, das in ein schmales Tal hinunterführte.

Das Salmtal!, fuhr es ihm durch den Kopf. Und als er angestrengt in die Dunkelheit spähte, glaubte er hinter dem Schleier des dichten Schneeregens sogar die Silhouette eines hoch aufragenden Gebäudes sowie andere schwarze Umrisse erkennen zu können, die zu kantig waren, um zur Natur zu gehören. Das musste die Klosterkirche von Himmerod sein!

Mit neu erwachter Hoffnung legte sich Jakob ins Zeug. Wenige Minuten später vermochte er sogar den schwachen Schimmer einer Lampe auszumachen. Er war auf dem richtigen Weg! Auch wenn das nicht die Abtei war, so würde er dort immerhin auf eine menschliche Behausung stoßen, wo er sicherlich Unterschlupf und vielleicht sogar ein wärmendes Feuer finden konnte.

Es war jedoch tatsächlich das Kloster der Zisterzienser, das wenig später am linken Ufer der Salm mit seiner hohen Mauer und der dahinter liegenden Kirche vor ihm aus der Dunkelheit wuchs. Deutlich hob sich das Kreuz auf der Turmspitze vor dem Nachthimmel ab.

Von grimmiger Genugtuung erfüllt, taumelte Jakob an mehreren dunklen Stallungen vorbei, die schon von weitem den penetranten Geruch von Schweinen ausströmten. Eine gute Meile dahinter sah er endlich den wuchtigen Torbau vor sich, der in die wehrhafte Umfriedung der Klosteranlage eingelassen war. Über dem hohen Torbogen, in dem eine Lampe brannte, lag unter einem Giebeldach noch ein Geschoss mit schmalen Fenstern. Das wuchtige, doppelflügelige Tor bestand aus mächtigen Bohlen, die mit hunderten von sicherlich fingerdicken, handgeschmiedeten Eisennägeln beschlagen waren, deren Köpfe Rosetten trugen. In den linken Torflügel war eine schmale Tür mit einem Fenster eingelassen, unter dem ein schwerer Eisenklopfer befestigt war. Von dem oberen Wulst des Torbogens hing eine Reihe von armlangen Eiszapfen herab.

Jakob ließ den Zuggurt von seiner schmerzenden Schulter gleiten, stellte das Deichselende auf einen kniehohen Markstein neben dem Torbogen und hämmerte mit dem Eisenklopfer gegen die schweren Bohlen.

»Macht auf!«, schrie er mit rauer Kehle. »Aufmachen!«

Endlich ging die Klappe hinter dem kleinen, vergitterten Fenster in der Tür auf. »Was macht Ihr für einen Lärm zu dieser nachtschlafenden Zeit?«, bellte eine ärgerliche Stimme hinter dem Gitter. »Wollt Ihr unseren Konvent vielleicht um die kurze Zeit der Nachtruhe bis zur Matutin bringen?

Wenn Ihr Almosen wollt, so kommt morgen wieder, wie es sich gehört. Das Armenbrot gibt es erst nach dem Hochamt! Also sucht Euch einen Platz drüben im Stall und.«

»Ich will keine Almosen!«, fuhr Jakob dem Pfortenbruder ungeduldig ins Wort. »Ich verlange Einlass!«

»Der Allmächtige möge Euch Eure hochmütige Rede verzeihen!«, wies ihn der Mönch zurecht.

»Ich bin nicht hochmütig, sondern nass bis auf die Haut, kalt wie ein Eisklotz und am Ende meiner Kräfte, weil ich einen von Euren Brüdern seit drei Tagen auf meinem Karren hinter mir herziehe!«, antwortete Jakob hitzig.

»Ihr habt einen von unseren Brüdern auf Eurem Wagen?«, stieß der Mönch hinter dem Fenstergitter ungläubig hervor. »Das kann nicht sein! Hütet Euch vor Lügen, Fremder, ganz besonders im Angesicht des Kreuzes! Habt mehr Gottesfurcht im Herzen, wenn Ihr an die Pforte eines Klosters klopft!«

Jakob unterdrückte den lästerlichen Fluch, der ihm schon auf der Zunge lag. »Ich lüge nicht! Seht selbst!«, rief er und schlug die Decken zurück. »Er nennt sich Bruder Anselm und trägt die Kutte eines Mönches! Ich traf am Laacher See auf ihn und er drängte mich unter dem Versprechen auf eine ansehnliche Belohnung ihn hierhin nach Himmerod zu bringen!«